Deutschland verpasst ein Momentum
Online Marketing

Deutschland verpasst ein Momentum

Dr. Stefan Sambol arbeitet gemeinsam mit seinem Unternehmen OMMAX an den großen Lösungen. Ein Interview über die Zukunft des digitalen Marketing.

von Hannes Hilbrecht
Dr. Stefan Sambol ist Managing Partner bei OMMAX - Digital Solutions" © OMMAX GmbH

Stefan, erzähl mal, was ihr bei OMMAX macht:
Wir bei OMMAX begleiten internationale Unternehmen in acht Branchen erfolgreich durch die Digital-Transformation-Journey. 50% dieser Projekte sind strategischer Natur und bei 50% übernehmen wir die kompletten digitalen Marketing und Sales Operations, inklusive Business Intelligence (BI) / Data Geschäftsanalytik, bei der vorhandene Daten aus dem Unternehmen beleuchtet werden, um das Management mit Entscheidungshilfen zu unterstützen. und Technik. Kurz und knapp: Wir wollen unsere Partner-Unternehmen erfolgreich digitalisieren und organisches Wachstum generieren.

Für welche Kunden arbeitet ihr?
Das ist sehr unterschiedlich. Große internationale Unternehmen aus B2B und B2C sind dabei wie Zalando oder die Lufthansa. Zurzeit digitalisieren wir auch eine Klinikkette in Indonesien.

Was macht ihr genau in Indonesien?
Wir begleiten die größte Augenklinik-Kette bei der digitalen Transformation. Im ersten Schritt haben wir mit dem Management und den Gesellschaftern eine digitale Roadmap erarbeitet, so dass wir ein gemeinsames Zielbild vor Augen hatten. Danach ging es in die Umsetzung, die ein Relaunch der mehrsprachigen Online Plattform und das Aufsetzen der digitalen Marketing-Infrastruktur (Channels, Software, Analytics) beinhaltet. Jetzt befinden wir uns in der zweiten Phase des Projektes: Der Akquise von neuen Patienten für die Klinikkette über digitale Kanäle, inklusive Terminvereinbarung und Online Bezahlung im Voraus.

Um einen Eindruck von Eurer Arbeit zu bekommen: Wie sieht ein typischer Case bei euch aus?
Wir legen großen Wert auf datengetriebenes Arbeiten. Unser Grundsatz ist, den Ressourcenaufwand durch konsequentes Testing, Automatisierung und Datenanalysen so weit wie möglich zu reduzieren. Um auf einen bestimmten Case einzugehen: Ich bin ein großer Fan unserer Zusammenarbeit mit Waterlogic, von der Ausgangssituationen bis zum Blick auf die Ergebnisse. Waterlogic vermietet Wasserspender an Unternehmen, war aber im Marketing bis vor einigen Jahren nur offline aufgestellt. Wir haben ihren Vertrieb digitalisiert, ihre Leistung online auffindbar gemacht und eine Customer Journey für ihre sehr spezielle Zielgruppe entwickelt. Das hat gewirkt: In 2018 wurden digital mehr als 30.000 Leads generiert. Das entspricht einem Kundenwert in Höhe von 70 Millionen Euro über die gesamte Kundendauer. Durch die Digitalisierung des Geschäfts konnte 30% des Wachstums über digitale Kanäle generiert werden.

Welche internationalen Unternehmen sind denn in der Digitalisierung Vorreiter, gibt es da eine pauschale Einschätzung?
Wir denken hier nicht in Unternehmen, sondern stellen eher ein Gefälle in den einzelnen Branchen fest. So gibt es viele klassische Wirtschaftszweige, die sehr viel digitalen Nachholbedarf haben. Vorreiter ist dagegen die Tourismus- und Reisebranche, besonders die Online-Reiseanbieter.

Was machen die besser als die meisten anderen?
Die Zukunft des digitalen Marketings sehe ich in der Personalisierung und Individualisierung der Customer Journey - und genau hier sind die Reiseanbieter sehr weit. Der Content wird sich mehr denn je an dem einzelnen Verbraucher orientieren müssen. Im Idealfall sieht jeder User eine ganz individuelle Website, angepasst an die eigenen Bedürfnisse. Und genau hier sind die Online-Reiseanbieter teilweise schon sehr gut aufgestellt. Wichtig ist: Unternehmen brauchen dazu Daten über Kunden, die sie aus den Profileinstellungen und aus dem Nutzerverhalten durch Tracking gewinnen.

Und auch in der Travel-Branche gibt es noch Potenzial. So sind Reiseerlebnisse häufig noch viel zu papierlastig. Zwar wird die Möglichkeit von elektronischen Flugtickets schon gut und häufig genutzt, doch Gutscheine für individuelle Erlebnisse und auch Hotelbuchungen müssen häufig ausgedruckt und mit sich herumgetragen werden. Auch das Thema Upselling während der Reise und Retention Marketing Langfristige Kundenbindung von bestimmten Kundengruppen wird noch rudimentär angewendet.

Was muss dahingehend noch passieren?
5G muss überall und zu jeder Zeit verfügbar sein. Das ist ein großes Thema. Die Individualisierung einer Website läuft durch künstliche Intelligenz im Hintergrund und benötigt ein hohes Datenvolumen. Ohne 5G würden die Ladezeiten viel zu lange dauern und das Konzept trägt sich nicht. Niemand wartet mehr als fünf Sekunden, bis sich eine Seite lädt. Ohne 5G ist die Technik nicht funktionsfähig. Aber: Daran wird gearbeitet, die Technik wird kommen.

Außerdem sollten Unternehmen digitale Angebote mit Services und Hardware entwickeln, die auf die Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten sind. Unternehmen müssen in digitalen Ökosystemen denken, die auf ein emotionales Kundenerlebnis hinwirken, cross-channel und über das eigentliche Kern-Produktangebot hinaus. Das erfolgt dann häufig mit Partnerschaften und über Plattformangebote. US-Tech-Unternehmen wie Apple, Google, Amazon zeigen uns, dass das traditionelle Branchengrenzen nicht mehr da sind. Da haben Dax- und MDax- Konzerne noch Nachholbedarf, aber einige machen es auch schon ganz gut.

Um vorerst beim Thema "Daten" zu bleiben. Es ist ja etwas schwieriger geworden. Ich sage nur: Datenschutzgrundverordnung.
Ohne Frage: Das Tracking gestaltet sich nach der Datenschutzgrundverordnung teilweise umständlicher und effizientes Online Marketing ist abhängig von validen Datensätzen. Durch die aufgeschobene, aber sehr wahrscheinlich kommende E-Privacy-Verordnung werden die Hürden für datenbasiertes Marketing sogar noch weiter steigen. Die Menschen werden zurecht immer sensibler, was den Umgang mit ihren Daten angeht.

Sind sensibilisierte Verbraucher nicht der Alptraum eines Marketer?
Ich sehe darin auch eine Chance. Unternehmen müssen den Verbrauchern zeigen, dass es einen Value, einen Wert für sie hat, wenn sie ihre Daten mit Unternehmen teilen. Dann sind diese auch bereit, ihre Daten einem guten Nutzen zuzuführen. Auch Transparenz gehört dazu. Unternehmen wie die Lufthansa machen das schon gut, sie zeigen den Nutzern klar, wie diese vom Tracking auf der Website profitieren können. Datenschutzanforderungen sind für jedes Unternehmen eine Herausforderung, aber auch eine Möglichkeit, positiv herauszuragen. Wir haben dafür ein eigenes Unternehmen datenschutzexperte.de gegründet, ein Expertenteam, das sich nur mit dem Thema Datenschutzanforderungen und Lösungen für KMUs beschäftigt und unsere Kunden unterstützt.

Der Marketer von morgen und übermorgen benötigt ein anderes Skill Set als der Marketer von gestern.

Die Welt des Online-Marketings ist schnelllebig. Siehst Du abseits des datenbasierten Marketings eine Konstante für die nächsten 30 Jahre?
Für die einzelnen Kanäle sind so langfristige Prognosen nahezu unmöglich. Alles kann sehr schnell aufkommen und genauso schnell wieder dauerhaft verschwinden. Dagegen sehe ich eine langfristige Wandlung im Berufsbild des Marketers. Der kreative Anteil wird schrumpfen, analytische Fähigkeiten werden hingegen immer bedeutender. Der Marketer von morgen und übermorgen benötigt ein anderes Skill Set als der Marketer von gestern.

Datenbasiertes Marketing befremdet mich gelegentlich. Man ist nur eine Ziffer, ein Code, eine Aneinanderreihung von Buchstaben.
Auch wir Marketer dürfen das nicht nur positiv sehen. Ich finde die Macht der Algorithmen auch befremdlich. Mit ihr können, wie in den USA zu sehen, Wahlen massiv beeinflusst werden. Die Meinung von Menschen wird bewusst manipuliert. Das beste Beispiel: Unsere Newsfeeds bei Facebook. Da entscheiden nicht wir, was wir sehen wollen, sondern der Facebook-Algorithmus. Wir müssen sehr aufpassen, mit welchen Daten diese Algorithmen gespeist werden. Da braucht es aus meiner Sicht klare Regelungen und ein gemeinsames Wertesystem als Voraussetzung. Denn: Es sind nicht nur die sozialen Netzwerke, von denen wir uns abhängig machen. Fitnesstracker erinnern uns, wann wir Sport machen sollten. Ernährungs-Apps sagen uns, was wir zu essen haben. Google priorisiert unsere E-Mail-Kommunikation. Google Maps sagt uns, welchen Weg wir zur Arbeit nehmen sollen. Und Amazon empfiehlt uns, was wir kaufen sollen. Es grenzt teilweise an einen Kontrollverlust an die Technik. Adam Smith nutzte den metaphorischen Ausdruck der "unsichtbaren Hand" mit dem er die unbewusste Förderung des Gemeinwohls beschrieb. Diese entsteht, wenn alle Akteure unbewusst an ihrem eigenen Wohl interessiert sind. Im 21. Jahrhundert laufen wir Gefahr, dass die "unsichtbare Hand" die Form von Algorithmen annimmt und die Akteure unbewusst steuert. Der Worst Case sind dann Phänomene wie die Vorgänge rund um die US-Wahlen.

Unabhängig vom datenbasierten Marketing: Was sind die anderen wichtigen Trends des Marketings, die kein Unternehmer verpassen sollte?
Die Grenzen zwischen den einzelnen und früher getrennten Kanälen verschwimmen immer mehr. Silos brechen auf, an Omnichannel gibt es kein "vorbei" mehr. Und einzelne Nebenprodukte sind mittlerweile das beste Marketing. Ich denke an BMW und das alternative Geschäftsmodell DriveNow. Das Car-Sharing ist Lifestyle und ein zielgruppenstarkes Produkt - vor allem ist es für BMW die beste Markenwerbung, weil sich die DriveNow-Nutzer in einen BMW setzen und viel Vertrauen zur Marke aufbauen.

Welcher Begriff mir vorhin schon haften geblieben ist und jetzt wieder wichtig wird, glaube ich: Digitales Ökosystem.
Die Bedeutung eines konsequent gedachten digitalen Ökosystems darf nicht unterschätzt werden. Die einzelnen Kanäle sollten sich gegenseitig befruchten und in einer stetigen Interaktion miteinander stehen. Perspektivisch gedacht: Ist der DriveNow-Kunde von heute der BMW-Käufer von morgen? Können bereits Daten über seine Vorlieben bei DriveNow gesammelt werden, mittels derer er in eine personalisierte und individualisierte Journey zum Autokauf transferiert werden kann? Vielen scheint die Anschaffung eines Autos zu groß, um sie digital abzuschließen. Andere können und wollen bei so einer schwerwiegenden Entscheidung noch nicht auf die persönliche Beratung verzichten - bei allen digitalen Möglichkeiten, die wir heute haben. Für diese Fälle müssen wir Möglichkeiten finden, den offline Point-of-Sales mit den Online-Aktivitäten zu verknüpfen.

Kommen wir zurück zu einem anderen Themen: OMMAX arbeitet international für große Kunden und populäre Namen. Was ich mich da gerne frage: Wo steht Deutschland momentan im internationalen digitalen Vergleich?
Die meisten deutschen Unternehmen befinden sich in einer Lauerposition.

Das heißt?
Der Mittelstand beobachtet sehr genau, was andere Unternehmen weltweit erfolgreich austesten und umsetzen - oder eben, was sie falsch machen. Richtig konsequent arbeiten eher wenige Unternehmen an der Digital-Transformation-Journey. Gerade der Mittelstand steht in Deutschland noch am Beginn dieses Prozesses. Aktuell investieren viele Mittelständler in die Digitalisierung der Maschinen und sammeln Unmengen von Daten. Die Frage nach dem Use Case  Use Cases ist ein Anwendungsfall, der die Funktionalität eines geplanten oder existierenden Systems auf Basis von einfachen Modellen dokumentiert. und dem Mehrwert für den Kunden, für den er auch noch eine Zahlungsbereitschaft aufweist, bleiben häufig unbeantwortet. Aus unserer Sicht sollte damit begonnen werden.

Wir brauchen eine neue Unternehmerkultur, die bereit ist, sich ständig zu hinterfragen und die nicht in der Warteposition bleibt, bis andere zeigen, wie es geht.

Kann das nicht auch eine gute Strategie sein: abzuwarten, was die anderen falsch machen, und es dann besser machen?
Ich bin nicht davon überzeugt, sehe es kritisch. Deutschland verpasst gerade ein Momentum. Viele Mittelständler stehen wirtschaftlich aktuell noch gut da und spüren den Veränderungsdruck noch nicht. Jedoch hat die Geschwindigkeit der Digitalisierung insbesondere bei Konsumenten gezeigt, wie schnell sich das Kundenverhalten ändern kann und etablierte Anbieter in kurzer Zeit vom Markt verschwinden. Wir brauchen eine neue Unternehmerkultur, die bereit ist, sich ständig zu hinterfragen. Die auch neue, digitale Wege ausprobiert. Und die nicht in der Warteposition bleibt, bis andere zeigen, wie es geht.

Woran liegt es?
Es ist für mich keine Frage des Geldes, denn das ist da. Es ist eine Kulturfrage. Viele Unternehmen sind nicht bereit, das, was sie jahrzehntelang erfolgreich gemacht haben, nun zu verändern und den neuen Gegebenheiten anzupassen. Zu beachten ist jedoch, dass Digitalisierung mit der Brechstange nicht funktioniert. Es ist bei allen Warnungen, die Digitalisierung nicht zu verschlafen, sehr wichtig zu verstehen, dass wir hier von Prozessen sprechen. Kommt ein Kunde auf uns zu und möchte Unmengen an Geld ausgeben, um in einem Jahr komplett digital zu sein, so ist dieser Wunsch nicht realistisch. Es muss hier einerseits ein eigenes Digital Department aufgebaut und andererseits müssen erst einmal die digitalen Infrastrukturen geschaffen werden. Es ist in der Regel ratsam, sich der Thematik behutsam zu nähern und den Digitalisierungsprozess modular aufzubauen, um sich nicht selbst im Weg zu stehen. Der Schuss kann sonst schnell nach hinten losgehen.

Nun ist gerade im Online Marketing und in der Digitalisierung ja immer noch eine Budget-Frage. Wie können Unternehmen mit kleinen Etats konkurrenzfähig bleiben? 
Mit den großen mitzuhalten, wird im Zuge der teuren Innovationen schwer bis unmöglich. Da geht es um Markenbildung und einen guten Service. Man muss die Kunden überzeugen und vor allem: diejenigen, die schon da sind, halten.

Welche Unternehmen sind für Dich Vorbilder, an denen Du dich orientieren möchtest?
Unternehmen, die eine gute Balance zwischen Beratung und Umsetzung finden. Ich glaube, auch die großen Beratungsfirmen, die BCGs und McKinseys, werden sich verändern müssen. Sie müssen näher an die Umsetzung. Das gleiche gilt für die Agenturen, die das Know-How haben, aber nicht weit genug strategisch denken. Auf Industrieseite finde ich die Unternehmen bewundernswert, die den Mut zum Umdenken haben. Es ist nicht nur wichtig, Datensilos zu verbinden, wie wir es in unserer täglichen Arbeit tun, sondern auch Silos innerhalb von Organisationen aufzulösen. Es reicht einfach nicht, nur ein digitales Department zu schaffen und alle anderen Prozesse wie gewohnt weiterlaufen zu lassen. Sämtliche Organisationseinheiten von Sales über Controlling bis hin zum Back Office müssen abgeholt und mit den digitalen Chancen und den Umgang mit denselben vertraut gemacht werden. Nur dann können wir Potenziale komplett ausschöpfen.

Unsere Standardfrage: Was war das Smarteste, was Du im Job je vollbracht hast?
Gemeinsam mit meinem Kollegen Toni Stork "Digital Due Diligences" bei OMMAX zu entwickeln. Wir führen die Analysen unserer Kunden und Partner mit unserer eigenen Business Intelligence Software datengetrieben durch. Und können aus der Erfahrung von über 500 Digitalprojekten die Analysen mit Best Practices ergänzen, sowie eine Einordnung des Unternehmens auf dem digitalen Reifegrad vornehmen. Diese digitale Reifegradanalyse ist ein digitaler Audit über sechs Dimensionen. Nach diesem Vorgang können wir sehr genau einschätzen, wo ein Unternehmen over- und underperformt. Um gut und nachhaltig zu beraten, brauchen wir diesen präzisen Status Quo, der durch den Digital Audit sichtbar wird. Darauf aufbauend können wir Mehrjahres-Pläne entwickeln, die der oben beschriebenen Digitalisierung mit der Brechstange entgegenwirken. Wir priorisieren gemeinsam mit unseren Kunden, was wirklich Sinn für sie macht und was zu einem bestimmten Zeitpunkt nur Aktionismus wäre. Nicht selten unterstützen wir damit auch beim Change-Prozess innerhalb der Unternehmen.

In diesem Artikel
Hannes Hilbrecht

Hannes, Jahrgang 1993, gestaltet Content-Marketing-Projekte für die Digital-Agentur MANDARIN MEDIEN. Schrieb zuvor für Medien wie ZEIT ONLINE, den Berliner Tagesspiegel oder NDR.de. Ist nebenbei Fußballkolumnist. Erzählt jedem, den er trifft, dass er LeBron James interviewt hat. Für euch erreichbar unter: hannes.hilbrecht(ett)growsmarter.de

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