Wir haben Kommunikation nie gelernt
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Wir haben Kommunikation nie gelernt

Beat Bühlmann ist Produktivitätsforscher und Experte für moderne Kollaboration. Der Evernote-GM (EMEA) glaubt an virtuelle Teams und an einen Kommunikationsführerschein für Unternehmen.

von Hannes Hilbrecht
Beat Bühlmann in seinem Zürcher Büro. © PIABO PR

Beat, Du forschst über "virtual teams”. Es geht um das virtuelle Zusammenarbeiten von Teams, die sich nicht ein Büro teilen, sondern regional bis weltweit verstreut sind. Wie verbreitet ist dieses Arbeitsmodell?
Wir müssen verstehen, dass wir uns hier in einem Kontinuum befinden. Es gibt nicht eine Form des virtuellen Zusammenarbeitens, sondern sehr viele Abstufungen. Schon das Schreiben einer Mail oder ein Videocall sind Formen der virtuellen Kollaboration, wenn man auf unterschiedlichen Stockwerken zusammenarbeitet. Je mehr Gebäude, Städte, Länder, Sprachen und Kulturen involviert sind, desto komplexer werden die virtuellen Abläufe. Also arbeitet fast jedes Unternehmen - zumindest ein bisschen - virtuell.

Bei Deinen Forschungen geht es auch darum, dass sich komplette Teams online organisieren. Dass jemand aus Tokio tagtäglich mit einem Kollegen aus Berlin zusammenarbeitet. Was sind die Vorteile?
Fachkräfte und Talente zu gewinnen, die zwar für ein Unternehmen arbeiten wollen, aber nicht bereit sind, in die entsprechende Region zu ziehen. Für Unternehmen geht es ja darum, für jede Position den bestmöglichen Fit zu finden, den besten Mitarbeiter. Die Realität sieht oft anders aus: Meist geht es nicht darum, den geeignetsten überhaupt zu finden, sondern den besten verfügbaren Bewerber, der überhaupt in die jeweilige Stadt ziehen möchte. Gerade für Unternehmen aus unattraktiven Städten und Regionen, ist das ein großes Problem. Sie haben ohne virtuelle Teams keine Chance, Jobs optimal zu besetzen.

Ist die Scheu vor Innovationen an kleineren Standorten nicht generell größer als in den “Places to be”, den Weltstädten?
Definitiv. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass nicht nur viele kleine Unternehmen zu lange zaudern. Weltkonzerne wie Kodak und Nokia haben ihre über Jahrzehnte aufgebaute Führungsposition innerhalb von ein paar Jahren auf dramatische Art und Weise verloren. Wegen der fehlenden Anpassungs- und Modernisierungskompetenz.

Liegt das an den starken Veränderungen, die die Welt mit Globalisierung und Digitalisierung heimsuchen?
Es ist nicht ganz richtig, wenn man sagt, dass die Menschen mit Veränderungen überfordert seien, weil es das alles früher nicht gab. Natürlich gab es das früher auch. Nur hat die Dampfmaschine 100 Jahre gebraucht, und das Smartphone drei, vier Jahre. Veränderungen gab es schon immer - nur die Veränderungsgeschwindigkeit hat enorm zugenommen.

Dann haben die Firmen kein Pech gehabt, sie haben sich einfach nicht gut genug vorbereitet.

Die Welt ist also zu schnell für viele Unternehmen geworden.
Das Problem ist nicht allein die Geschwindigkeit, sondern die Einstellung der Firmen. Solange es für Unternehmen gut läuft und sie viel Geld verdienen, sind sie nicht bereit, ihre Arbeitsprozesse zu verändern, dafür auch noch Geld zu investieren. Viele Firmen werden erst aktiv, wenn die Umsätze zurückgehen oder die Konkurrenz an einem vorbeizieht. Dabei wäre es doch viel praktischer, sich zu verbessern, wenn die Geschäfte gut laufen. Irgendwann gibt es nämlich den „point of no return“, an dem es kein zurück mehr gibt. Dann haben die Firmen kein Pech gehabt, sie haben sich einfach nicht gut genug vorbereitet.

Das lässt wenig Gutes für die Digitalisierung erhoffen.
Viele Experten sprechen von einem Tsunami, der auf die Unternehmen zukommt. Und man muss leider auch sagen, dass viele Unternehmen die Notlage noch nicht verstanden haben. In einer großen Schweizer Firma - weltweit erfolgreich - dauert es drei Wochen, um eine Videokonferenz vorzubereiten. Drei Wochen - das muss man sich mal vorstellen.

Evernote ist ein Tool, das die digitale Zusammenarbeit leichter und einfacher gestaltet. Wie bringst Du mit Deinem Team die Vorteile an die Kunden?
Wir machen nicht auf “Media Markt” und sagen, wie toll wir sind. Wir rufen: Houston, wir haben ein Problem! Wir wollen Eye-Opener sein und Real-Life-Probleme aufzeigen. In unseren Business-Praxis-Papern stellen wir adäquate Lösungsmöglichkeiten vor.

Wir machen nicht auf “Media Markt” und sagen, wie toll wir sind. Wir rufen: Houston, wir haben ein Problem!

Und das ist effektiv?
Viele Firmen prahlen in der Werbung, was sie alles wie gut können. Ich denke, es ist ratsam, im Marketing auf die Probleme der Kunden hinzuweisen, den Need zu erläutern, ehe man die eigene Lösung dafür vorstellt. Information und Aufklärung sind unser Hauptkanäle. Wir machen keine Panik, sagen aber mit fundierten Researches, was schlecht oder nur unzureichend läuft. Und dann sagen wir, wie das mit unseren Tools konkret gelöst werden kann.

Ich möchte mal ein konkretes Beispiel für ein Problem hören.
Nehmen wir den “Triple Overload”. Dafür haben wir klare Zahlen ermittelt und in einem Whitepaper veröffentlicht.

Was für Zahlen?
2,5 Stunden sucht der durchschnittliche Wissensarbeiter pro Tag nach Daten und Informationen. Das sind ein Drittel der Arbeitszeit und damit auch der Lohnkosten. Dazu versickern bis zu 80 Prozent der Arbeitszeit in Kommunikationsabläufen. Mails, Telefonate, Messenger, Meetings - jeder weiß: so viel Zeit zum Arbeiten bleibt danach gar nicht mehr. Dazu kommt: Im Schnitt bekommen Angestellte alle drei bis fünf Minuten eine Notification. Konzentriertes und damit effektives Arbeiten ist da kaum möglich. Zumal Forscher gerade an dem Nachweis arbeiten, dass diese kognitiven Unterbrechungen Burnouts fördern. Die Mitarbeiter werden jeden Tag massiv mit Daten und Informationen überfrachtet.

Was die Hauptursache?
Unter anderem, dass wir Kommunikation nie richtig gelernt haben.

Die meisten Unternehmer, Führungskräfte und Mitarbeiter können nicht richtig kommunizieren.

Das heißt?
Überspitzt ausgedrückt: Die meisten Unternehmer, Führungskräfte und Mitarbeiter können nicht richtig kommunizieren. Das beste Beispiel: Man schreibt eine Mail, wenn man ein ernstes Problem hat. Ich frage immer: Mailen Sie auch der Feuerwehr, wenn Ihr Haus brennt? Die Mail landet womöglich im Spam-Ordner und zwei Wochen später käme der Reply, ob Sie noch Hilfe brauchen. Dann ist das Haus aber schon abgebrannt. Andererseits wird das Telefon benutzt, um Kleinigkeiten zu besprechen. Das lenkt ab, unterbricht den Arbeitsprozess eines Kollegen. Jedes Kommunikationstool hat ganz bestimmte Vor- und Nachteile. Nur nutzt die kaum einer dementsprechend.

Wie hat Evernote das Problem gelöst?
Wir haben eine Unternehmensguideline geschrieben und damit einen Führerschein für unsere interne Kommunikation geschaffen. Den hat jeder Mitarbeiter verinnerlicht. Diese Guideline hängt auch in unseren Fluren und beinhaltet klare Vorgaben, wann wir welche Tools wie anwenden. Zum Beispiel, dass wir wichtige Nachrichten ausschließlich per SMS versenden. Stehe ich an der Kaffeemaschine und führe gerade ein gutes Kollegengespräch, weiß ich beim SMS-Ton, dass ich mich jetzt schnell um etwas Wichtiges kümmern muss. Höre ich den WhatsApp-Ton, ist das eine wichtige, aber keine dringende Information; sie kann warten. Das funktioniert im Privatleben übrigens auch vortrefflich, so eine Guideline zu haben.

Geht es nur um die Kommunikationswege und deren Wichtigkeit?
Dazu gehört viel mehr. Zum Beispiel, dass wir in E-Mails keine Probleme diskutieren. Da versteht man sich häufig falsch. Das Telefonat oder das persönliche Gespräch ist schneller, unkomplizierter und vermeidet Missverständnisse. Fachlich, aber vor allem auch zwischenmenschlich. Außerdem ist geregelt, von wann bis wann Mails gelesen werden müssen.

Nun können virtuelle Teams auch eine Lösung sein, Kommunikationsprobleme zu vermeiden. Weil die Zusammenarbeit klaren Regeln in den digitalen Räumen untergeordnet ist. Warum gibt es trotzdem einige Probleme, was machen die Unternehmen falsch?
Ihr Fehler ist, dass sie sie für virtuelle Teams genauso recruiten wie für die lokalen Units. Sie arbeiten in identischen Abläufen, machen gleiche Tests. Dabei sind die Anforderungen je nach Arbeitsumfeld völlig verschieden. Ein Beispiel: Ein Bewerber kann richtig gut programmieren, braucht dafür aber auch viel Touch und Menschenführung durch die Vorgesetzten, damit er am besten performen kann. Dieser Programmierer ist für ein digitales Team eher ungeeignet. Dann gibt es aber auch den Kandidaten, der in einem Büro mit viel Ablenkung nicht so gut arbeiten kann wie in einem privaten und abgeschlossenen Bereich. Ob analog in einem Büro oder remote in einem virtuellen Team - das sind ganz andere Persönlichkeitsanforderungen. Mitarbeiter in einem virtuellen Team müssen das entsprechende Skillset mitbringen.

Was sollte man testen, um zu erfahren, ob ein Kandidat für ein virtuelles Team geeignet ist?
Die Auffassungsgabe und die Kompetenz des Zuhörens. Ein digitales Team funktioniert nur, wenn jeder weiß, was er selbstbestimmt bis wann zu erledigen hat. Dafür muss man einander zuhören und verstehen. Ein virtuelles Team verspielt seinen Effizienzvorteil durch verringerte Kommunikation und weniger Meetings, wenn jeder fünfmal nachfragen muss, was er zu tun hat. Oder eben nicht genau die Aufgaben erfüllt, weil er nicht nachfragen will und nur die Hälfte verstanden hat. Dann verschlingt es viel Zeit, die Fehler zu korrigieren.

Kannst Du uns einen Einblick in einen Evernote-Recruiting-Test geben?
Ich teste die Kandidaten in einem Interview und stelle ihnen zwei Fragen. Dann bitte ich darum, mir die Fragen und die beiden kurzen Antworten (max. fünf Sätze) zu mailen. 60 Prozent der Bewerber, auch die mit hervorragenden Referenzen, scheitern hier. Sie vergessen die Fragen oder sie schreiben halbe Romane als Antworten. Wenn jemand bei einem Job-Interview nicht konzentriert zuhören kann, wann denn dann?

Ist die Qualität des Zuhörens keine, die man lernen kann?
Natürlich kann man sich diese Qualität mit Lernbereitschaft aneignen oder sie zumindest verbessern. Dafür muss man aber auch wiederum die richtige Persönlichkeit haben. Die Forscherin Carol Dweck hat ein sehr interessantes Modell ermittelt. In diesem gibt es das Growth-Mindset und das Fixed-Mindset. Die Profile unterscheiden sich dramatisch, kommen aber in jedem Unternehmen vor. Mitarbeiter mit dem Fixed-Mindset suchen die Schuld bei anderen, haben tausend Erklärungen, warum etwas schiefgegangen ist. Sie können auch nicht mit Kritik umgehen. Persönlichkeiten mit dem Growth-Mindset tut Kritik auch weh, aber sie suchen die Fehler nicht ausschließlich, aber zunächst bei sich selbst. Sie hinterfragen ihr eigenes Handeln. Ein Mitarbeiter mit dem Growth-Mindset nimmt Herausforderungen an, obwohl er weiß, dass er daran scheitern kann und für den Chef blöd aussieht. Was der Chef aber wissen sollte: Auch durch das Scheitern hat sich der Mitarbeiter verbessert.

Wie sieht denn dein idealer Mitarbeiter aus?
Wir bei Evernote suchen vor allem ein starkes Mindset. Ein neuer Mitarbeiter von Evernote muss noch nicht alles können, aber er muss alles können wollen und lernfähig sein. Dafür gibt es Coachings und Schulungen. Der ideale Mitarbeiter hat also ein Mindset, das ihn flexibel einsetzbar macht und das Herausforderungen mutig annimmt. Der auch mal die Komfortzone verlässt. Außerdem möchte ich mit Menschen zusammenarbeiten, die in ihrem Job eine Aufgabe sehen. Die von sich selbst aus gerne 30 Minuten länger bleiben, wenn es der Job erfordert. Die auch am Wochenende in die Mails gucken, wenn sie wissen, dass ein Kunde oder ein Kollege vielleicht ein Problem haben könnte.

Sind Überstunden nicht der Ausbau des Triple Overloads?
Es geht ja nicht darum, mehr zu arbeiten als vorgesehen. Sondern die eigene Arbeitskraft effizienter einzusetzen. Ich persönlich kümmere mich zwischen 14 und 16 Uhr oft um private Angelegenheiten. Erledige Einkäufe, Papierkram, was eben so anfällt. Dafür sitze ich abends nochmal am Computer, um mit dem Headquarter in San Francisco zu korrespondieren. Meine Arbeitszeit ist da deutlich effektiver angelegt. Übrigens ist auch dafür ein Tool wie Evernote da: überall und zu jeder Zeit arbeiten können.

Unternehmen müssen vor allem verstehen, dass die Kreativität der Mitarbeiter nicht planbar ist.

Unternehmen müssen dann nicht nur flexibles Arbeiten predigen, sondern es auch aktiv fördern.
Unternehmen müssen vor allem verstehen, dass die Kreativität der Mitarbeiter nicht planbar ist. Man kann nicht sagen: Wir setzen uns jetzt eine Stunde zusammen und um 15 Uhr haben wir die bestmögliche Idee gefunden. Viele Mitarbeiter kennen das Problem: Sie sollen von 9 bis 17 Uhr funktionieren und einen guten Job machen. Das ist aber ineffektiv. Weil man manchmal einfach nicht weiterkommt, eine Stunde auf weißes Papier guckt. Diese Zeit können die Mitarbeiter effektiver nutzen, für sich selbst, für ihren Alltag. Um dann mit freiem Kopf weiterarbeiten zu können. Deshalb ist mir das Mindset auch so wichtig. Bei meinen Kollegen weiß ich, dass sie für Evernote alles geben. Und manchmal heißt das auch, von zuhause zu arbeiten. Oder den Nachmittag frei zu machen und sich abends nochmal hinzusetzen. Das tut ja nicht nur dem Unternehmen gut, sondern auch dem Mitarbeiter.

Das heißt aber auch: Das Büro wird immer unbedeutender. Christoph Magnussen hat GrowSmarter gesagt, dass das Büro auch nur ein "Tool der Kollaboration" sei. Stimmst Du dem zu?
Ja! Der Satz trifft es perfekt. Ich werde ihn für mich übernehmen und Herrn Magnussen selbstverständlich zitieren.

Wir haben eine Frage, die wir jedem Interviewpartner stellen. Was war für dich die beste und smarteste Entscheidung, die Du je getroffen hast?
Auch wenn es langweilig ist: Voller Fokus. Ich mache eine Sache, und die richtig und vermeide es so gut es geht, fünf Sachen gleichzeitig zu lösen. Das gaukelt einem nur Geschwindigkeit vor, ist am Ende aber gar nicht effektiver.

Hast Du auch ein konkretes Beispiel?
Als ich mein erstes Buch geschrieben habe, fragte ich meine Frau: Wollen wir eine Kreuzfahrt machen? 14 Tage? Mein Wunsch: Ich darf zwei Stunden vormittags und zwei am Nachmittag an meinem Buchprojekt schreiben. Ich hatte in den zwei Wochen 56 effektive, ungestörte und gut erholte Arbeitsstunden und habe mein Buch in einem Rutsch fertig geschrieben. Das war ein klarer Fokus. So versuche ich meine Arbeit zu organisieren. Dazu gehört auch: Mir immer mehr Zeit einzuplanen als ich wirklich brauche. Deswegen konnte dieses Interview auch ein bisschen länger gehen. Die Extrazeit war für mich eingeplant. Ich habe jetzt keinen Stress. Auch das ist "Fokus".

Frage Beat

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Wir leiten die besten Fragen an Beat Bühlmann weiter. Die Antworten veröffentlichen wir anschließend hier unter dem Ursprungsartikel.

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In diesem Artikel
Hannes Hilbrecht

Hannes, Jahrgang 1993, gestaltet Content-Marketing-Projekte für die Digital-Agentur MANDARIN MEDIEN. Schrieb zuvor für Medien wie ZEIT ONLINE, den Berliner Tagesspiegel oder NDR.de. Ist nebenbei Fußballkolumnist. Erzählt jedem, den er trifft, dass er LeBron James interviewt hat. Für euch erreichbar unter: hannes.hilbrecht(ett)growsmarter.de

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