Vier-Tage-Woche: Chance oder Utopie?
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Vier-Tage-Woche: Chance oder Utopie?

Die Wirtschaft ächzt unter Corona, Arbeitsplätze sind bedroht. Wirkt das Gegenmittel Vier-Tage-Woche?

von Redaktion
Die Vier-Tage-Woche kann ein Modell sein, künftig Arbeit, Freizeit und Familie besser zu vereinbaren. Photo by Toa Heftiba on Unsplash

Der Arbeitsminister plant Großes. Hubertus Heil (SPD), dessen Name an ein Kräuterlikör-Flakon von der Supermarktkasse erinnert, plädiert für die Vier-Tage-Woche. Das soll nebst Kurzarbeit Arbeitsplätze in allen Branchen sichern. Corona machts notwendig. In der Automobilindustrie verkürzen Großkonzerne bereits das Arbeitspensum, die Wochenarbeitszeit und Gehälter schrumpfen, Jobs bleiben bestehen. Andere Wirtschaftsbereiche könnten folgen. Weniger Lohn, mehr Freizeit – ist das ein Deal, der auch langfristig funktioniert, der eine Schneise raus aus Kurzarbeit und Alltagstrott schlägt?
 
Und kann das, was jetzt aus der Not geboren wird, alsbald Alltag werden im wohlhabenden Industrie-Europa? Die GrowSmarter-Autoren Oliver Kramer und Hannes Hilbrecht bewerten die Idee unterschiedlich. Der eine glaubt an die Familienfreundlichkeit und mehr Geschlechtergerechtigkeit, der andere will die Arbeitszeit, wie wir sie verstehen, lieber ganz abschaffen. Zwei Einschätzungen.

Flexible Arbeit für mehr Qualitätszeit

von Oliver Kramer

Während ich diese Zeilen schreibe, scheint der Mond in mein Arbeitszimmer. Meine Töchter schlafen längst, meine Frau sinkt erschöpft auf die Couch. Und während die meisten Menschen in den Abendstunden ihren wohlverdienten Feierabend genießen, entfalte ich meine Kreativität.

Ich war schon immer ein Eulen-Mensch. Während der Schulzeit verlegte ich meine Hausaufgaben gern mal in die Primetime. Und auch später im Berufsleben kam ich erst in der zweiten Tageshälfte auf Touren. Als Redakteur beginnt mein Arbeitstag in der Regel gegen 9 oder 10 Uhr. Am Nachmittag hole ich die Kids aus der Kita ab und genieße mit der Familie die freien Stunden auf dem Spielplatz. Echte Qualitätszeit.

Die "fehlenden" Stunden arbeite ich am Abend oder am Wochenende nach. Ich will mich nicht in feste Strukturen zwängen lassen, sondern Beruf und Familie eigenverantwortlich organisieren. Daher schätze ich das flexible Arbeitszeitmodell meines Arbeitgebers und bin gerne auch mal bereit, für dringende Projekte in die Verlängerung zu gehen. Bin ich ein New-Work-Nerd? Mitnichten.

Ich will mich nicht in feste Strukturen zwängen lassen.

Höre ich mich im Freundes- und Bekanntenkreis um, wird New Work längst gelebt. Viele Papas genießen ihre Elternzeit, Mamas treiben ihre Selbstständigkeit voran. Die klassischen Rollenbilder, dass der Mann mit einem gut bezahlten Vollzeitjob die Familie ernährt und die Frau Haus und Kinder hütet, sind von vorgestern. Geblieben sind die Anforderungen an junge Familien, ihren Alltag zwischen Job, Kinderbetreuung, finanziellen Engpässen, Pflege der Eltern und ehrenamtlichem Engagement zu meistern.

Etliche Studien belegen, dass die klassische 40-Stunden-Woche ein Auslaufmodell ist. Sie wirkt sich physisch und psychisch negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten aus. Um dem Burn-Out oder stressbedingten Depressionen vorzubeugen, können schon geringfügig verkürzte Arbeitszeiten wie eine 35-Stunden-Woche das Wohlbefinden der Mitarbeiter und damit auch die Produktivität steigern.

Dazu passt der Vorschlag zur Einführung einer 4-Tage-Woche. Mit der Idee preschten jüngst Politiker wie Linken-Parteichefin Katja Kipping und der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann vor. Und trafen nicht nur wegen der Corona-Krise den Nerv der Zeit. Während der Gewerkschafter mit verkürzten Arbeitszeitmodellen den digitalen Strukturwandel in der Industrie bewältigen will, plädiert die Linke für eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden in Vollzeit für alle Beschäftigten. Zwei unterschiedliche Ansätze mit ähnlichen Zielen: Jobs sichern. Die Produktivität steigern. Arbeit möglichst breit verteilen.

Ob dieser Deal aufgeht? In meiner Arbeitswelt führt die Digitalisierung derzeit nicht zu weniger Arbeit, sie verlagert sie nur. Web-Dienstleistungen, Online-Marketing und E-Commerce sind echte Wachstumsmotoren. Zukunftsbranchen wie Künstliche Intelligenz (KI), Health Care und Life Sciences gewinnen rasant an Bedeutung. Und schaffen Jobs. Langfristig, so glauben Experten, wird die Arbeitslosigkeit bei fortschreitender Digitalisierung sogar weiter sinken. Sofern Ausbildung und Qualifizierung mit der Entwicklung Schritt halten.

Vielleicht, denke ich, werden meine Töchter mal in so einer Zukunftsbranche arbeiten. Vier Tage in der Woche oder sogar weniger. Und ihren Alltag zwischen Beruf und Familie trotzdem spielend meistern.

Endlich Ergebnisse zählen!

von Hannes Hilbrecht

Ich bin gegen die Vier-Tage-Woche! Ich bin gegen 9-to-5 schaffende Echsenmenschen! Sowieso lehne ich den Klassiker, den 40-Stunden-Turnus ab! Ich klinge wie ein Wutbürger. Hauptsache dagegen, alles ist furchtbar, ihr könnt mich alle mal.

So schlimm ist es nicht. Wer nach rechts schaut und nach links in der Welt, sieht, dass es uns gut geht in Deutschland. Bei so viel Wohlstand, Bequemlichkeit und sauberem Leitungswasser ist mir nicht nach Meckern. Trotzdem habe ich ein Problem mit der Arbeitszeit, besonders mit unserem Verständnis dafür.

Vorab: Es gibt Branchen, da geht es nicht ohne steife und manchmal auch strenge Organisation. In der Industrie müssen Bänder fließen, im Service jederzeit Ansprechpartner bereitstehen. In Krankenhäusern funktioniert es nicht ohne Schichtsystem, Katheter lassen sich nicht aus dem Homeoffice wechseln. Noch nicht. Ich möchte nur an der 40-Stunden-Woche in der sogenannten Wissensarbeit rütteln wie Schröder damals am Zaun des Kanzleramts. Ja, wieder wir, die verdammten Privilegierten, sollen profitieren.

Zum Anzweifeln der klassischen Arbeitszeit verführte mich der kürzlich verstorbene Anthropologe David Graeber, der pointiert über "Bullshit Jobs" schrieb, über Arbeiten, die Unternehmen und die Welt nicht brauchen. Damit nicht genug: Der brand eins-Essayist und Wirtschaftsdenker Wolf Lotter, den ich erst neulich interviewen durfte, erwartet, dass 50 Prozent aller Routinearbeiten im Büro durch Automation und künstliche Intelligenzen mittelfristig überflüssig werden. Zudem kritisierte Lotter – wie andere Experten vor ihm – das allseits bekannte Problem der Arbeitssimulation. Da ein Meeting, da eine Excel-Tabelle und da die frisierte Powerpoint für die interne Weiterbildungssession. Die Zeit-Online-Journalistin Tina Groll schrieb bereits vor vier Jahren mit Hinweis auf eine Studie des Marktforschungsinstituts "Harris": "Teamleiter verschwenden im Schnitt 9,1 Stunden pro Woche für Meetings, die wenig produktiv sind. Das ist für die Entscheider immerhin mehr als ein Arbeitstag pro Woche."

Verschwendung von Arbeitszeit kostet Unternehmen und Kunden bares Geld.

Während dieser Verschwendung von Arbeitszeit, die Unternehmen und Kunden bares Geld kostet, langweilen sich viele Betroffene. Das bestätigen ebenfalls Studien. Eintönigkeit kann gesundheitsschädigend sein, fanden Hirnforscher heraus. Langeweile stresst den Körper, das Cortisol im Blut lügt nicht.

Auch die 40-Stunden-Woche ist Teil des Problems. Die muss für den Check am Monatsende gefüllt werden, Überstunden sind Symbol geworden für die eigene Wichtigkeit. Das Problem ist: Warum zählen wir Stunden, aber nicht das, was am Ende herumkommt, die Performance also?

Natürlich müssen wir Zeitaufwände kalkulieren, um Budgets zu schätzen, damit wir den Preis für Dienstleistungen realitätsnah annageln können. Doch davon abgesehen plädieren immer mehr Experten dafür, dass beratende Unternehmen Lösungen verkaufen sollten – nicht Arbeitsstunden. Davon würden alle Stakeholder profitieren. Die Kunden, die verbindliche Preise bekommen, vielleicht sogar Geld sparen, gestreuter investieren können. Die Dienstleister, für die es sich noch mehr lohnt, effizienter und fokussierter zu arbeiten. Und auch die Arbeitnehmer, die nicht 40 Stunden im Büro absitzen, sondern ihre Zeit zielorientierter nutzen dürften. Und wenn es nichts Wertschöpfendes zu tun gibt, ist das Erholen in der Freizeit, das Weiterbilden und Inspirieren für den Arbeitgeber wertvoller als so manches brotlose Meeting.

PS: In Zeiten sinkender Wirtschaftsleistung bin ich dann doch zwingend für die 32-Stunden-Woche als ersten Schritt zu mehr abgesicherter Selbstständigkeit. Arbeitsplätze erhalten, den gewonnenen Freiraum zum Weltretten, Imkern und Zucchini-Einkochen verwenden. Und vor allem dann arbeiten, wann wir wirklich das Beste leisten können.

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Redaktion

Das sind die sechs Mädchen und Jungs von GrowSmarter. Sie recherchieren, denken und schreiben mit Liebe über die Hacks aus aller Welt. 

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