Die Tour de Marketing
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Die Tour de Marketing

Sportereignisse und Hollywood-Filme erreichen Millionen Fans. Doch sind sie viel mehr als reichweitenstarkes Entertainment: nämlich interessante Marketing-Kanäle. Teil 1 unserer Content-Perspektive.

von Hannes Hilbrecht
© Victor Xok on Unsplash

Irgendwo zwischen den südfranzösischen Orten Albi und Toulouse machte es klick. Ich war nicht etwa auf Reisen, sondern verfolgte nach Jahren mal wieder eine Etappe der Tour de France. Das größte Radrennen der Welt musste zuletzt schlechte Zeiten überstehen. Dopingskandale beschädigten das Image. Das früher populärste Produkt der Tour, der überführte Betrüger Lance Armstrong, ist nur noch ein Häufchen verbrannte Erde.

In diesem Jahr holte mich das Event wieder ein. Und das nicht nur wegen der wachsenden sportlichen Spannung, sondern weil ich plötzlich verstand, wie gut die Marketing-Ansätze der Tour de France funktionieren. Ich begriff: Dieses Event ist eigentlich nur ein besonders vielseitiger Marketing-Kanal, der ganz anders wirkt als die flackernde Werbe-Dauerbeschallung bei großen Fußballturnieren.

Die Marketingansätze der Tour de France sind viel zielgruppenzentrierter. Und viele Zuschauer begreifen in ihren Wohnzimmern gar nicht, dass sie stundenlang den Content der französischen Tourismus-Behörde verschlingen. Warum klappt das alles so gut?

Drei Marketing-Hebel sind besonders spannend

1. Wochenlange Brand Awareness

Im Radsport ist es fast Tradition, dass die Equipes So werden die Teams genannt. nach Sponsoren benannt sind. Ob Shampoo-Marke, Reiseanbieter, Armaturenhersteller oder gar ein ganzes Land: Unternehmen generieren alleine durch die Trikots ihrer Teams eine Brand Awareness, von der Sponsoren in anderen Sportarten nur träumen. Die Fans fiebern nicht mit dem FC Bayern, sondern mit ihrem Helden aus dem Team Bora-Hansgrohe. Dieses Team gibt es wirklich, kein Scherz.

Als Toursieger Egan Bernal allen Mitfahrern davonraste, sahen Millionen Radsportfans minutenlang eine fahrende Ineos Ein großes Chemie-Unternehmen-Litfaßsäule die Alpen hinauf strampeln. Kein Wunder, dass ein gewiefter Medienmogul wie Stefan Raab bei seinen “Sportevents” diese Strategie kopierte.

Die Tour de France – das waren in diesem Jahr 21 Etappen und über 100 Stunden weltweite Screen-Time für die Marken.

2. Der perfekte Ort für Product Placements

Ein Großteil der Radsportfans fährt selbst begeistert Rad. Marken wie der Sportuhren-Hersteller Garmin, diverse Fahrrad-Fabrikanten oder Energieriegel bekommen für drei Wochen die ideale Umgebung für ihre Product Placements in einer spitzen Zielgruppe. Ständig nimmt der Zuschauer bei Nahaufnahmen der Räder oder der Fahrer (Helme und Sonnenbrillen) die Produkte unterschwellig wahr. Noch wichtiger: Die Zuschauer sehen sie unter maximaler Belastung in Aktion. Ein Helm, der von einem Radprofi getragen wird, kann schließlich nur ein guter sein.

3. Tourismus-Marketing der Superlative

Die Organisation der Grande Tour ist ein riesiger Aufwand. Ein gewaltiger Tross aus knapp 200 Fahrern, unzähligen Betreuern und Zuschauern rollt über Frankreichs gesperrte Straßen. Drei Wochen lang ist die Polizei im Dauereinsatz.

Der Benefit für das Land Frankreich ist diese Mühen wert. Hubschrauber des französischen Fernsehens schweben wie Drohnen über dem Peloton Das Hauptfahrerfeld. Sie liefern Luftaufnahmen von Küstenstädten, goldenen Stränden, Schlössern und barocken Herrenhäusern. Selbstverständlich passiert die Tour die meisten touristischen Hot Spots. Sogar die Kommentatoren sind bestens gebrieft. Sie liefern in fast allen Sprachen Details zu den Burgen und Museen, die das französische Fernsehen gerade einfängt.

Die Tour de France – das sind drei Wochen Content Marketing für das Tourismusland Frankreich, bestens eingewoben in ein sportliches Weltereignis. Manche Zuschauer sollen die Übertragungen sogar vor allem wegen der Landschaft sowie der Burgen und Schlösser schauen.

Übrigens: Das Produkt Tour de France gewinnt wieder an Aufmerksamkeit und Wert. In den USA verzeichnete die Tour die besten Einschaltquoten seit 2010. In Frankreich wurden TV-Rekorde gebrochen. Und auch auf den wichtigsten europäischen Märkten außerhalb Frankreichs (Deutschland, Italien, Spanien) stieg wieder das Interesse.

Eine Umgebung für die Zielgruppe oder für das Produkt?

Die irre Radhatz durch Frankreich ist ein gutes, wenn auch ein unabsichtlich entstandenes Beispiel dafür, warum Marketing-Content manchmal extrem gut funktioniert.

Das über 100-Jahre alte Event schaffte nämlich nicht zuerst eine Umgebung für die Produkte, die es bewerben wollte. Sondern schuf zunächst Werte für die Sportler und Fans – und dachte damit unbewusst an die künftige Zielgruppe.

Warum ist die Tour so “watchable”?

Das Radrennen ist extrem vielseitig und spannend konzipiert. Jede Etappe ist umkämpft. Fast immer gibt es das Duell zwischen wenigen Ausreißern und dem Haupt-Fahrerfeld. Die Konstellation zwischen David gegen Goliath ist im Sport ein emotionaler Trigger. Ähnlich wie bei einer guten Serie ist jede Folge eine eigene Story – und trotzdem schielt jeder Fan vor allem auf die Gesamtwertung und das Finale in Paris.

Erst als die Tour über Jahre zum Mythos erwachsen war, ein geniales sportliches Konzept bot und über neue Übertragungswege auch die pittoreske Schönheit Frankreichs transportieren konnte, entwickelte es das gesamte Marketing-Potenzial. Das Henne-Ei-Problem ist klar zu beantworten: Zunächst war die Plattform für die Fans (ähm, die Zielgruppe) da, erst dann folgten die diversen Werbe-Hebel im großen Stil. Übrigens schmälern die vielen involvierten Sponsoren keineswegs das sportliche Treiben. Im Gegenteil: Die Vermarktung verleiht dem Rennen noch mehr Action. Durch gesponserte Wertungtrikots und dem Ziel der Teams und Sponsoren, möglichst oft von den Fernsehkameras eingefangen zu werden, fahren viele sehr mutig und offensiv.

Die Strategie wirkt in verschiedenen Branchen

Das klappt übrigens nicht nur im Sport, sondern auch in anderen Branchen. Nur ein Beispiel: Walt Disney. Auch der Entertainment-Gigant entwickelte zunächst tolle Inhalte, die erst später zu einem Multiplikator für diverse Endprodukte wurden. Content-Marketing-Papst Joe Pulizzi erklärte im GrowSmarter-Interview:

Disney nutzt Animationsfilme, um viel Aufmerksamkeit in einer großen Zielgruppe zu generieren. Diese Zielgruppe gibt unermesslich viel Geld für Besuche im Disneyland und Disney-Merchandise aus.

Frühe Fehler

Ein oft gemachter Fehler bei “normalen” Content-Marketing-Projekten beginnt schon bei einer Eingangsfrage: Denken wir bei der Konzeption zunächst an die Produkte und die eigene Marke oder priorisieren wir lieber die Bedürfnisse der Zielgruppe? Viele haben den Return-Of-Invest (ROI) wie eine Schere im Kopf.

Die Interessen der Unternehmen und der Nutzer unterscheiden sich oft gravierend. Egal welche Buzzwörter wir vorschieben (Branding, Awareness, etc.), die Unternehmen wollen immer nur das Eine: Auf kurz oder lang ihre Produkte oder eine Dienstleistung verkaufen. Häufig vergessen sie dabei, dass Content Marketing vordergründig ein Tool ist, um an Zielgruppen zu kommen, die noch überhaupt kein Kaufinteresse haben.

Die interessierten Nutzer befinden sich nur in einigen Fällen an der Stelle der Customer Journey, indem sie bereit sind, sofort Geld auszugeben. Viele andere User wollen sich mit authentischen Inhalten informieren oder bestenfalls unterhalten. Das Kaufinteresse steht bei vielen hinten an. Es muss erst langfristig geschürt werden.

Die Tour de France hat –  wenn auch unabsichtlich – diesen Spagat über Jahrzehnte geschafft. Sie schuf eine Content-Plattform für das Tourismus-Marketing im ganzen Land und nebenbei eine Plattform, auf der Unternehmen ihre Marken authentisch inszenieren können. Auch erfüllt sie Pulizzis Definition:

Content Marketing fokussiert das Bedürfnis einer bestimmten Zielgruppe und befriedigt es über lange Zeit konstant mit tollen und relevanten Inhalten.

WÄRE DA NICHT DIESES VERFLIXTE DOPING.

Demnächst auf GrowSmarter:

Teil 2: Das Mindset-Problem im Content Marketing, und warum gute Suchmaschinen-Optimierung auch gefährlich sein kann: jetzt Lesen!

Teil 3: Erst das Ei, dann die Henne: Ein Live-Content-Experiment (19. August)

In diesem Artikel
Hannes Hilbrecht

Hannes, Jahrgang 1993, gestaltet Content-Marketing-Projekte für die Digital-Agentur MANDARIN MEDIEN. Schrieb zuvor für Medien wie ZEIT ONLINE, den Berliner Tagesspiegel oder NDR.de. Ist nebenbei Fußballkolumnist. Erzählt jedem, den er trifft, dass er LeBron James interviewt hat. Für euch erreichbar unter: hannes.hilbrecht(ett)growsmarter.de

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