Feature: Die Zukunft des Content Marketings?
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Feature: Die Zukunft des Content Marketings?

Unsere große Content-Marketing-Perspektive jetzt in einem geballten Feature. Experteneinschätzungen, Best Practices, eine Vision und weitere Leseempfehlungen. 

von Hannes Hilbrecht
© Photo by Kourosh Qaffari on Unsplash

Inhalt:

Kapitel 1: Tour de Marketing

Kapitel 2: Eine Umgebung für die Zielgruppe oder für das Produkt?

Kapitel 3: Eine Frage des Mindsets?

Kapitel 4: Warum gutes SEO super wichtig und trotzdem eine Gefahr ist

Kapitel 5: Ein Experiment

Kapitel 6: GrowSmarter-Lesetipps

Lesezeit: 16 Minuten

Kapitel 1: Tour de Marketing

Irgendwo zwischen den südfranzösischen Orten Albi und Toulouse machte es klick. Ich war nicht etwa auf Reisen, sondern verfolgte nach Jahren mal wieder eine Etappe der Tour de France. Das größte Radrennen der Welt musste zuletzt schlechte Zeiten überstehen. Dopingskandale beschädigten das Image. Das früher populärste Produkt der Tour, der überführte Betrüger Lance Armstrong, ist nur noch ein Häufchen verbrannte Erde.

In diesem Jahr holte mich das Event wieder ein. Und das nicht nur wegen der wachsenden sportlichen Spannung, sondern weil ich plötzlich verstand, wie gut die Marketing-Ansätze der Tour de France funktionieren. Ich begriff: Dieses Event ist eigentlich nur ein besonders vielseitiger Marketing-Kanal, der ganz anders wirkt als die flackernde Werbe-Dauerbeschallung bei großen Fußballturnieren.

Die Marketingansätze der Tour de France sind viel zielgruppenzentrierter. Und viele Zuschauer begreifen in ihren Wohnzimmern gar nicht, dass sie stundenlang den Content der französischen Tourismus-Behörde verschlingen. Warum klappt das alles so gut?

Drei Marketing-Hebel sind besonders spannend

1. Wochenlange Brand Awareness

Im Radsport ist es fast Tradition, dass die Equipes So werden die Teams genannt. nach Sponsoren benannt sind. Ob Shampoo-Marke, Reiseanbieter, Armaturenhersteller oder gar ein ganzes Land: Unternehmen generieren alleine durch die Trikots ihrer Teams eine Brand Awareness, von der Sponsoren in anderen Sportarten nur träumen. Die Fans fiebern nicht mit dem FC Bayern, sondern mit ihrem Helden aus dem Team Bora-Hansgrohe. Dieses Team gibt es wirklich, kein Scherz.

Als Toursieger Egan Bernal allen Mitfahrern davonraste, sahen Millionen Radsportfans minutenlang eine fahrende IneosEin großes Chemie-Unternehmen-Litfaßsäule die Alpen hinauf strampeln. Kein Wunder, dass ein gewiefter Medienmogul wie Stefan Raab bei seinen “Sportevents” diese Strategie kopierte.

Die Tour de France – das waren in diesem Jahr 21 Etappen und über 100 Stunden weltweite Screen-Time für die Marken.

2. Der perfekte Ort für Product Placements

Ein Großteil der Radsportfans fährt selbst begeistert Rad. Marken wie der Sportuhren-Hersteller Garmin, diverse Fahrrad-Fabrikanten oder Energieriegel bekommen für drei Wochen die ideale Umgebung für ihre Product Placements in einer spitzen Zielgruppe. Ständig nimmt der Zuschauer bei Nahaufnahmen der Räder oder der Fahrer (Helme und Sonnenbrillen) die Produkte unterschwellig wahr. Noch wichtiger: Die Zuschauer sehen sie unter maximaler Belastung in Aktion. Ein Helm, der von einem Radprofi getragen wird, kann schließlich nur ein guter sein.

3. Tourismus-Marketing der Superlative

Die Organisation der Grande Tour ist ein riesiger Aufwand. Ein gewaltiger Tross aus knapp 200 Fahrern, unzähligen Betreuern und Zuschauern rollt über Frankreichs gesperrte Straßen. Drei Wochen lang ist die Polizei im Dauereinsatz.

Der Benefit für das Land Frankreich ist diese Mühen wert. Hubschrauber des französischen Fernsehens schweben wie Drohnen über dem Peloton Das Hauptfahrerfeld. Sie liefern Luftaufnahmen von Küstenstädten, goldenen Stränden, Schlössern und barocken Herrenhäusern. Selbstverständlich passiert die Tour die meisten touristischen Hot Spots. Sogar die Kommentatoren sind bestens gebrieft. Sie liefern in fast allen Sprachen Details zu den Burgen und Museen, die das französische Fernsehen gerade einfängt.

Die Tour de France – das sind drei Wochen Content Marketing für das Tourismusland Frankreich, bestens eingewoben in ein sportliches Weltereignis. Manche Zuschauer sollen die Übertragungen sogar vor allem wegen der Landschaft sowie der Burgen und Schlösser schauen.

Übrigens: Das Produkt Tour de France gewinnt wieder an Aufmerksamkeit und Wert. In den USA verzeichnete die Tour die besten Einschaltquoten seit 2010. In Frankreich wurden TV-Rekorde gebrochen. Und auch auf den wichtigsten europäischen Märkten außerhalb Frankreichs (Deutschland, Italien, Spanien) stieg wieder das Interesse.

 

Kapitel 2: Eine Umgebung für die Zielgruppe oder für das Produkt?

Die irre Radhatz durch Frankreich ist ein gutes, wenn auch ein unabsichtlich entstandenes Beispiel dafür, warum Marketing-Content manchmal extrem gut funktioniert.

Das über 100-Jahre alte Event schaffte nämlich nicht zuerst eine Umgebung für die Produkte, die es bewerben wollte. Sondern schuf zunächst Werte für die Sportler und Fans – und dachte damit unbewusst an die künftige Zielgruppe.

Warum ist die Tour so “watchable”?

Das Radrennen ist extrem vielseitig und spannend konzipiert. Jede Etappe ist umkämpft. Fast immer gibt es das Duell zwischen wenigen Ausreißern und dem Haupt-Fahrerfeld. Die Konstellation zwischen David gegen Goliath ist im Sport ein emotionaler Trigger. Ähnlich wie bei einer guten Serie ist jede Folge eine eigene Story – und trotzdem schielt jeder Fan vor allem auf die Gesamtwertung und das Finale in Paris.

Erst als die Tour über Jahre zum Mythos erwachsen war, ein geniales sportliches Konzept bot und über neue Übertragungswege auch die pittoreske Schönheit Frankreichs transportieren konnte, entwickelte es das gesamte Marketing-Potenzial. Das Henne-Ei-Problem ist klar zu beantworten: Zunächst war die Plattform für die Fans (ähm, die Zielgruppe) da, erst dann folgten die diversen Werbe-Hebel im großen Stil. Übrigens schmälern die vielen involvierten Sponsoren keineswegs das sportliche Treiben. Im Gegenteil: Die Vermarktung verleiht dem Rennen noch mehr Action.

Die Strategie wirkt in verschiedenen Branchen

Das klappt übrigens nicht nur im Sport, sondern auch in anderen Branchen. Nur ein Beispiel: Walt Disney. Auch der Entertainment-Gigant entwickelte zunächst tolle Inhalte, die erst später zu einem Multiplikator für diverse Endprodukte wurden. Content-Marketing-Papst Joe Pulizzi erklärte im GrowSmarter-Interview:

Disney nutzt Animationsfilme, um viel Aufmerksamkeit in einer großen Zielgruppe zu generieren. Diese Zielgruppe gibt unermesslich viel Geld für Besuche im Disneyland und Disney-Merchandise aus.

Frühe Fehler

Ein oft gemachter Fehler bei “normalen” Content-Marketing-Projekten beginnt schon bei einer Eingangsfrage: Denken wir bei der Konzeption zunächst an die Produkte und die eigene Marke oder priorisieren wir lieber die Bedürfnisse der Zielgruppe? Viele haben den Return-Of-Invest (ROI) wie eine Schere im Kopf.

Die Interessen der Unternehmen und der Nutzer unterscheiden sich oft gravierend. Egal welche Buzzwörter wir vorschieben (Branding, Awareness, etc.), die Unternehmen wollen immer nur das Eine: Auf kurz oder lang ihre Produkte oder eine Dienstleistung verkaufen. Häufig vergessen sie dabei, dass Content Marketing vordergründig ein Tool ist, um an Zielgruppen zu kommen, die noch überhaupt kein Kaufinteresse haben.

Die interessierten Nutzer befinden sich nur in einigen Fällen an der Stelle der Customer Journey, indem sie bereit sind, sofort Geld auszugeben. Viele andere User wollen sich mit authentischen Inhalten informieren oder bestenfalls unterhalten. Das Kaufinteresse steht bei vielen hinten an. Es muss erst langfristig geschürt werden.

Die Tour de France hat –  wenn auch unabsichtlich – diesen Spagat über Jahrzehnte geschafft. Sie schuf eine Content-Plattform für das Tourismus-Marketing im ganzen Land und nebenbei eine Plattform, auf der Unternehmen ihre Marken authentisch inszenieren können. Auch erfüllt sie Pulizzis Definition:

Content Marketing fokussiert das Bedürfnis einer bestimmten Zielgruppe und befriedigt es über lange Zeit konstant mit tollen und relevanten Inhalten.

WÄRE DA NICHT DIESES VERFLIXTE DOPING.

Kapitel 3: Eine Frage des Mindsets?

Es gibt einen Satz in der Marketing-Welt, den ich in den Gesprächen auf Konferenzen nicht mehr hören kann. 

Wir machen nur Corporate Publishing, das dürfen wir nicht vergessen.

Was für ein Bullshit! Man stelle sich vor, die Produzenten des Entertainment-Schwergewichts HBO hätten sich vor Jahren gesagt: Wir machen ja nur Serien, keine Hollywood Blockbuster. Hätte uns Game of Thrones im GZSZ-Look gedroht?

Nicht minderwertiger als andere Medien

Corporate Publishing muss nicht per se qualitativ minderwertiger sein als andere Medienerzeugnisse. Klar – Journalismus ist das, wo Nike oben drüber steht, definitiv nicht. Aber es kann auch Content-Formate geben, die Lesern, Hörern und Zuschauern neue Werte vermitteln. Corporate Publishing (egal in welcher Form) kann also auf seine eigene Art und Weise hilfreicher, informierender, interessanter und fesselnder sein als die konkurrierenden seriösen Medienprodukte. 

Die wichtigste Bedingung dafür: Die Inhalte müssen nicht nur hochwertig sein, sondern bei den Nutzern aufrichtig und ehrlich ankommen. Unternehmen wie Hornbach, die sehr gutes Content Marketing machen, stellen ihre Zielgruppe an die erste Stelle. Sie schaffen zunächst eine Umgebung für den potenziellen Kunden, nicht für die eigenen Produkte. Diese schwimmen nur mit. Das aber erfolgreich.

Hornbach denkt sogar sehr kreativ an zwei verschiedene Zielgruppen. So gibt es für die Heimwerker klassische Eigenheim-Tutorials. In ausführlichen Videos erklären Experten, wie sogar Laien erfolgreich Parkett verlegen oder Fenster austauschen können. Die urbanen Bastler werden derweil mit Tutorials zum Thema "Designermöbel" angesprochen.

Schaue ich mir andere Content-Projekte im Web an, erscheinen manche Magazine hingegen wie eine ferne Enklave der Unternehmens-Homepages. Das Produkt steht meist im Fokus, das Interesse der Leser ist zweitrangig. Manchmal werden die Angebote so jauchzend beschrieben, dass mündige Kunden sich lieber selbst Würgemale zufügen, als noch eine Sekunde auf dieser Website zu stöbern.

Immer, wenn ich einen Sponsored Post von Hello Fresh auf Popdust sehe, sehne ich mich nach einer Garrotte für den Eigenbedarf. Wenn Content Marketing nicht mehr als Werbung bietet, ist das ein ernsthaftes Problem und infam den Nutzern gegenüber. Umso positiver wirkt es hingegen, wenn genau diese negative User-Erwartung “ist ja nur Werbung” weit übertroffen wird. 

Content Marketing fokussiert das Bedürfnis einer bestimmten Zielgruppe und befriedigt es über lange Zeit konstant mit tollen und relevanten Inhalten. 

Das Grundkonzept von Content Marketing ist simpel. An Joe Pullizzis zeitloser Definition verändert sich trotz der steten Verwandlung der Kanäle und des menschlichen Medienbewusstseins wenig. 

Trotzdem an dieser Stelle drei Gedankenspiele, wie wir Pulizzis Definition für uns nutzen können:

1. Mehr Disruption und Themenvielfalt

Manche Unternehmen müssen sich in der ersten Konzeptionsphase ihres Content-Marketing-Projekts mehr von ihren Produkten lösen. Es geht um Disruption und die Diversifizierung des Themenspektrums. Das schafft gerade in den Ressorts Reisen, Sport, Gesundheit und Popkultur neue Relevanzen und vergrößert die Vielfalt der greifbaren Story-Fäden.

Denken wir einmal an ein Unternehmen wie Sennheiser. Das Unternehmen aus Hannover produziert Mikrofone und Lautsprecher. Die Kopfhörer zählen zu den besseren Angeboten auf dem Markt. 

Eine konservative Vorgehensweise für Sennheiser wäre: 

“Wir erklären, wie gut unsere Produkte sind. Wie gut sie klingen, wie sie den Lärm der Außenwelt abschirmen. Wir nutzen Testimonials und zeigen, welche coolen und wichtigen Leute (Musiker, Hubschrauberpiloten, etc.) Sennheiser-Produkte in ihrem Alltag verwenden. ”Nett. Aber eben noch lange kein Content Marketing. 

Eine Plattform dagegen, die auf eine neue Art Musikthemen verarbeitet und Leser begeistert (z.B. Album-Reviews in einer neuen Form), verspricht ganz andere disruptive Potenziale.

Das hat wesentliche Gründe:

  • Je nach Künstler oder Genre können sehr unterschiedliche Zielgruppen über die Themenauswahl und das Targeting erreicht werden. 
  • Über Social-Media fällt die Distribution leicht, da viele Nutzer ihren Lieblingsinterpreten folgen.
  • Durch Album-Releases, Reunions, Festivals und große Konzerte gibts 365 Tage im Jahr frische Aufhänger für Themen mit hoher Relevanz.
  • Starker, musikbezogener Content macht Lust auf Musik in besonders guter Qualität – das ist der Bogen zum Produkt.

So eine Plattform wäre ein Ort für die Zielgruppe – aber zeitgleich eine passende Umgebung für Produkte, die Musik überhaupt erlebbar zu machen. 

2. Werte deine Glaubwürdigkeit mithilfe deiner Konkurrenz auf

Glaubwürdigkeit ist das Wichtigste. In zwischenmenschlichen Beziehungen wie im Verhältnis zwischen Produzenten und Verbrauchern. Die meisten von uns kennen die Folgen eines gebrochenen Kundenversprechens. Negative Kritiken im Internet werden bis zu siebenmal eher geschrieben oder geteilt als eine positive. Und diese Kritik bleibt haften wie früher die Grasschmiere an der Jeanshose.

Selbst Unternehmen, “die immer ehrlich waren” oder zumindest diesen Eindruck erfolgreich vorgaukeln, leiden unter der Skepsis der Nutzer. Doch wie lässt sich Glaubwürdigkeit aufrichtig gewinnen?

Der wohl schmerzhafteste und gleichzeitig simpelste Kniff: Eine Plattform, die man gebaut und entwickelt hat, auch für die Konkurrenten öffnen. Klingt irre. Das macht kaum einer. Genau darum wäre dieser Ansatz so wichtig.

Nehmen wir einen Produzenten von veganem Fleischersatz. Angenommen, dieser startet ein Magazin (Text, Video, Multimedia, was auch immer) mit dem Ziel, leidenschaftlichen Steak-Fans bei der Reduzierung des eigenen Fleischverbrauchs zu helfen. 

Haltung statt Werbung

Konkretes Beispiel: Das fiktive Unternehmen Veggiehof will dem umweltbewussten Whopper-Enthusiasten mit schlechtem Gewissen einige Alternativen und Strategien zeigen, mit denen er künftig ökologischer lebt. Wenn Veggiehof nur eigene Produkte zeigt, dann ist es eine schöne Aktion, aber eben auch Werbung mit mehr Kalkül als Überzeugung.

Aber ab dem Moment, wo der Channel auch andere Produkte (natürlich nicht die direkte Konkurrenz) vorstellt, die Veggiehof vielleicht nicht selbst im Sortiment hat, die aber trotzdem gut sind, bekommt die Message einen authentischen Anstrich. Die charmante Idee, die immer noch Werbung ist, wird als Haltung wahrgenommen. Die große Sache steht – vermeintlich – über den eigenen Marken-Interessen. Das generiert Glaubwürdigkeit. 

3. Content-Kreation als Research-Tool

Entwickeln Unternehmen und Agenturen ihr Content Marketing mit dem Anspruch, neue und gute Stories zu erzählen, kann der Input, den gute Redakteure, Autoren und Content-Kreatoren (was ein doofes Wort) schürfen, Gold wert sein.

Kein Abfallprodukt – ein Wert

Egal, wie konstant Studien, Statistiken und Data Mining verlässliche Orientierungsmarken liefern – es bleiben trotzdem Zahlen. Und diese können menschliche Kontakte, Expertengespräche oder neue Formen der Content-Aufbereitung nicht immer ersetzen. 

Die gewonnenen Inhalte sind nicht nur Content für die Zielgruppe, sondern bestenfalls auch valide Informationen für die Auftraggeber. Diese Weiterbildungskomponente ist kein Abfallprodukt. Sie ist ein Wert. 

Jon Westenberg ist ein bekannter Marketing-Blogger aus Neuseeland. ©Westenberg

Kapitel 4: Warum gutes SEO super wichtig und trotzdem eine Gefahr ist

Agenturen wissen es und Unternehmen leidlich auch: Guter Inhalt ist teuer. Aber dafür ist er langlebig. Ein richtig guter Text kann auch in fünf Jahren noch funktionieren. Das heißt: Über Social viral gehen oder über die Suchmaschinen Interessenten akquirieren. 

Wie gut Content dauerhaft wirkt, ist von den SEO-Maßnahmen abhängig. Gutes SEO kann fantastische organische Ergebnisse erzielen und so für günstige und permanente Reichweite sorgen. Wem erzähle ich etwas Neues. Das Problem ist: Manchmal ist “organisch fantastisch” gar nicht so gut. 

Seo-Kontamination kann schaden

Es gibt sehr viele gute SEO-Artikel da draußen. Und es gibt eben auch sehr viel Kleister. Mindestens vier-, fünfmal die Woche lande ich auf so einem Beitrag. Vor lauter Keywords verschrumpeln die Stories oder die Inhalte bis zur Unkenntlichkeit. 

Die Wirkung ist möglicherweise fatal: Der User interessiert sich für ein Thema, klickt auf das erste Suchergebnis unterhalb der Anzeigen und denkt danach nur: Langweilig (wie Homer Simpson gesprochen). Oder noch schlimmer: Alles schon mal gelesen. Oder am furchtbarsten: Ist ja totaler Schwachsinn. Es gibt SEO-Texte, die sind so grausig seo-kontaminiert, dass sie nicht als Appetizer für eine Marke oder ein Produkt wirken, sondern eher wie ein Appetitzügler. 

Der neuseeländische GrowSmarter-Gastblogger Jon Westenberg schrieb in einem Beitrag über Influencer-Marketing ein paar Sätze, die auch hier hinpassen. 

Clicks. Views. Likes. Shares. Was nützt Dir das? Die einzigen Metrics, die Dir wichtig sein sollten, sind: Acquisition, Activation, Retention, Revenue, Referral?

SEO, im Endeffekt auch nur eine Form von Manipulation, kann gute Texte auffindbar machen. Sogar verhindern, dass manch geniale Kreation zur brotlosen Kunst gerät. Würde es meinen Lieblings-Toastbrothersteller noch geben, hätte er bessere SEO gemacht? Sehr gut möglich.

Aber SEO-Maßnahmen können auch gegenteilig wirken. Dann nämlich, wenn sie miesen Content einer großen Masse an Lesern zuführen.

Die Eitelkeitsmetriken

Genau das ist die latente Gefahr. Egal, ob ein geiler Social-Teaser, eine perfekt platzierte Anzeige oder ein gutes Ranking dafür verantwortlich ist: Bricht ein Inhalt seine Versprechen, relevant zu informieren (oder zu unterhalten), leidet darunter die Marke. Clicks und Views, Eitelkeitsmetriken, wie John Westenberg sie nennt, sind nicht immer so positiv, wie mancher sie verkauft.

Ein guter Beitrag mit 5000 Views, hohen Verweildauern und einer starken Reaktionsrate ist sehr oft wertvoller als 20.000 Kurzzeitbesucher, die beim nächsten Mal ein noch größeres Versprechen benötigen, um wieder auf die Seite zu kommen. 

Ich stelle mir das ganz plastisch so vor: Wollen wir, dass potenzielle Kunden an einem Verkaufsstand kurz "Hallo" sagen und wieder verschwinden? Oder wollen wir sie für einen intensiven Dialog mit unserer Marke gewinnen? Die Antwort sollte klar sein. 

Felix Willykonsky, Head of Social beim wachsenden Streaming-Riesen DAZN und Content-Experte, sieht es ähnlich. Auf GrowSmarter schrieb er: 

Wir werden an Reichweite und Markenawareness gemessen, aber wir schauen in erster Linie auf das Nutzerfeedback. Die Liebe der Community ist mehr wert als alles andere.

In einer Pulizzi-Nussschale zusammengefasst: SEO und Storytelling – das funktioniert effektiv nur auf Augenhöhe.

Kapitel 5: Ein Experiment

Gemeinsam mit einem Kollegen von MANDARIN MEDIEN teste ich in meiner Freizeit eine Content-Marketing-Vision im Kleinen. Als Vorlauf für größere Agentur-Projekte. Es ist ein Ansatz “outside the box”. Was sind wir so bescheiden: Manchen wird es vielleicht wie eine Revolution vorkommen.

Wir machen es wie Walt Disney oder die Tour de France, nur mit Kalkül: Wir bauen erst ein Medium, das die Zielgruppe liebt. Und das mit der Absicht, es im nächsten Step zu einem Content-Marketing-Tool für Unternehmen zu machen. Und im dritten Schritt spüren die Fans, dass das Angebot, das sie schätzen, dank der Corporate-Partner sogar noch wächst und besser wird. Die Bedürfnisse der Leser werden von den werbenden Unternehmen nicht abgewürgt, sondern noch stärker befriedigt.

Wie funktioniert dieses Experiment?

Starten wir mit unseren Kerngedanken. Zehn Fragen bestimmten unsere konzeptionelle Startphase: 

  1. Wie bekommen wir ohne Budget schnellstmöglich viel qualitativen Traffic?
  2. Gibt es genügend natürliche Seeding- und Multiplikations-Optionen – und sind diese leicht für uns zu erschließen?
  3. Gibt es ein Publikum von 100.000 bis 200.000 Fans, das wir relativ konkurrenzlos erreichen können?
  4. Können wir für die Zielgruppe eine Umgebung schaffen, die für sie einmalig ist?
  5. Hat unser Produkt einen klaren USP?
  6. Sind wir 365 Tage im Jahr für unsere Zielgruppe relevant und gibt es eine sichere wöchentliche Reichweite?
  7. Können Unternehmen von dieser Plattform profitieren?
  8. Sind wir eigentlich gut in dem, was wir vorhaben?
  9. Bieten wir unseren Lesern wirklich einen Mehrwert?
  10.  Können wir jeden der ersten 9 Punkte abhaken?

1. Step: Am Anfang steht der Fan

Konnten wir. 

Derzeit entwickeln wir für die Fans eines Fußball-Drittligisten mit einem extremen Reichweitenpotenzial einen neuen Fußballblog auf einer bestehenden Webpräsenz. 

Dieser Blog bietet neue Formate, die in Deutschland weitestgehend unerprobt sind. In der Schublade liegen sieben bis acht Beitragsformen, die sich alle stark vom bislang verbreiteten lokalen Sportjournalismus unterscheiden. Die meisten Ideen adaptieren wir aus den USA. Dort nimmt die Sportmedien-Coverage seit Jahren die weltweite Vorreiterrolle ein. Was bei technischen Produkten gilt, sollte auch beim Content gelten: Lerne von den Besten.

Unser USP: Neue Inhaltsformen wie Player-Grades nach eigener Formel, Play-by-Play-Analysen und einer Abwandlung des weltberühmten Carpool-Karaoke fürs Fußballstadion (das wird ein Kracher). Anstelle von normalen Action-Bildern arbeiten wir mit zeitlich relevanten Karikaturen im Comic-Stil. Das ist eine Anlehnung an das Erfolgskonzept des US-Magazin “The Ringer”. Kurzum: Wir bauen ein Produkt, das sich von der Konkurrenz inhaltlich und optisch stark unterscheidet.

Die ersten Zahlen sind beeindruckend. Obwohl wir an einen bestehenden Blog ohne Bestandsreichweite andockten, gerade mal 50 Euro für eine Anzeige ausgegeben haben und noch gar keine Social-Strategie fahren, erreichen wir aus dem Stand zehntausende Leser. Die verbringen bei langen Artikeln bis zu fünf Minuten in den Texten. Das Feedback ist fast durchweg positiv. Uns lieben noch nicht viele, aber diejenigen, die uns lieben, tun das bereits sehr. 

Mit Karikaturen Abgrenzung schaffen. MANDARIN-MEDIEN-Denker Stefan Pede malt die Cartoons. © Stefan Pede

2. Step: Klare Strategie für Unternehmen

Der wichtigste Grund, warum unsere Texte sehr ausführlich, also lang sind: Wir wollen Lesern echten Mehrwert bieten. Und dieser braucht gerade im Sport ab und an etwas mehr Raum.

Der besondere Unterschied: In normalen Medien ist jener Raum mit vielen unterschiedlichen Anzeigen vollgestopft. Die Konkurrenz zwischen den Werbenden ist groß. Man strapaziert den Leser sowieso schon mit seinem Blingbling, und dann muss man sich noch mit Banken und Versicherungen darum prügeln, wer am charmantesten nervt. 

Drei, vier passende Anzeigen und Product Placements einer Marke in einem Beitrag und auf der ganzen Website aufeinander abgestimmt und orchestriert – die Wirkung ist eine ganz andere. 

Hier beginnt der zweite “revolutionäre” Gedanke: Die allermeisten Unternehmen haben Hochphasen, die für sie ganz besonders wichtig sind. Brauereien brauchen dann gutes Marketing, wenn die Leute am meisten Bier kaufen und trinken. Ein Reiseunternehmen wiederum hat ganz andere zeitliche Bedürfnisse. 

Wir streben Joint-Venture-Lösungen an. Jeden Monat übernimmt ein anderer regionaler oder überregionaler Partner als Exklusiv-Werber. Unternehmen mit der gleichen Zielgruppe und einer ähnlichen Message, aber anderen Produkten, können gemeinsame Sachen machen und voneinander profitieren. So machen es übrigens die nicht konkurrierenden Sportmedien “Kicker” und “DAZN”. Der gemeinsame Podcast bündelt die Kompetenzen und gleichzeitig verschmelzen die Reichweiten.

Größtes Plus für die neuen Corporate-Publisher: Durch den effizienteren Einsatz ihrer Mittel werden Ressourcen für klassisches Performance Marketing geschaffen. Joe Pulizzi wäre stolz auf uns. Er sagt:

Etwa 75 Prozent des Gesamtbudgets sollten zu Beginn in die Distribution fließen.

Step 3: Gutes Content Marketing machen

Der Plan für den Roll-Out ist simpel: Sobald die Bühne muckelig bereitet ist, der erste Corporate-Partner einsteigen kann mit eigenen Formaten, Freebies und anderem Gedöns, steigt die Qualität der Plattform weiter. Corporate Partner sorgen für ein weiteres Upgrade. Sie belegen keine Artikel-Slots, sondern schaffen neue Benefits für die Zielgruppe. Die Werbung verliert dadurch ihren Ruf als Störfaktor. 

Die wichtigste Erfahrung: All die Steps, die wir gerade nehmen, ließen sich auch von Beginn an strategisch mit Unternehmen planen, vorbereiten und umsetzen. Mit einem angenehmen Vorteil: Bekommt die Plattform keine PS und die Strategie erweist sich als nicht zielführend, ist der Stecker schnell gezogen.

Doch warum ist das Content Marketing?

Weil Marken eine sehr breite Zielgruppe erreichen, die womöglich noch nie etwas von den Produkten oder Angeboten gehört hat. Mit Inhalten und Produkten, die die Leser ansprechen, und Werbung, die auf diese Formate individuell zugeschnitten ist. 

Auch erfüllt diese Version Pulizzis Definition von erfolgreichen Content-Marketing. Denn auch wenn die Corporates wechseln: Wir versorgen eine Zielgruppe über lange Zeit mit relevanten Inhalten.

Kapitel 6: Lesetips 

Interview mit Joe Pulizzi

3 Learnings von Felix Willikonsky DAZN

Vision: Die Zukunft des Content Marketing im Sport

Interview mit Maximilian Block

In diesem Artikel
Hannes Hilbrecht

Hannes, Jahrgang 1993, gestaltet Content-Marketing-Projekte für die Digital-Agentur MANDARIN MEDIEN. Schrieb zuvor für Medien wie ZEIT ONLINE, den Berliner Tagesspiegel oder NDR.de. Ist nebenbei Fußballkolumnist. Erzählt jedem, den er trifft, dass er LeBron James interviewt hat. Für euch erreichbar unter: hannes.hilbrecht(ett)growsmarter.de

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